Geschichtliches über die Kevelaer-Bruderschaft Dremmen

Schild der Dremmener Bruderschaft (Kerzenkapelle Kevelaer)

zusammengestellt von Johannes Cremer

 

1980 wurde das 175 jährige Jubiläum gefeiert, so dass in diesem Jahr die Prozession zum 200. Male stattfindet.

 

Leider ist es nicht möglich, zu erfahren, wann die erste offizielle Prozession stattfand. So wird als Gründungsjahr die Jahreszahl 1805, die sich auf einer Tafel in der Kerzenkapelle findet, angenommen. Möglicherweise sind die Ursprünge aber noch viel älter.

 

Zu dieser Zeit (seit 1775) war Karl Ignaz RE(T)ZER, der am 6./ 10. Sept. 1736 in Düren geboren und am 17. März 1764 geweiht wurde, Pfarrer in Dremmen. Er übte dieses Amt bis zu seinem Tod am 21.März 1820 aus.

 

Die erste schriftliche Überlieferung stammt aus dem Jahre 1857, in der Handpostille des damaligen Küsters Johann Hubert Cremer, der sein Amt 60 Jahre ausgeübt hat.

Er berichtet: „Dienstag, 8.September 4:00 Uhr Heilige Messe mit Segen, anschließend Auszug“. Auch dass der damalige Pfarrer Thyssen (Tissen) die Prozession nicht begleiten konnte, dafür aber sein Kaplan Pütz die geistliche Leitung übernahm, wissen wir von ihm.

„Im Jahre 1858 zog die Prozession mittwochs unter Kaplan Jakobs schon um 3:00 Uhr aus“. Und noch ein drittes Datum hat Cremer in seinem Handbuch vermerkt:

“1862 begleiten Pastor und Vikar die Pilger.

 

Johann Joseph (Isaac) Lambert Anton THYSSEN, geboren am 23./20. Nov. 1798 in Aachen; geweiht am 8. Sept. 1824, war seit 01. Juli 1855 Pfarrer in Dremmen. Thyssen wurde am 4. Nov. 1858 Pfarrer in Balkhausen und verstarb am 16. Juli 1868.


Am 13. November 1858 trat Til(l)mann Jose(ph) BREMENTHAL die Pfarrstelle in Dremmen an. Er wurde am 8. April 1814 in Nideggen geboren, am 17. Dez. 1836 geweiht, war Kaplan in Köln (St. Aposteln) und seit dem 3. Januar 1852 Pfarrer in Hackenbroich, Dek. Neuß. Seine Amtszeit in Dremmen endete mit seinem Tod am 25. Aug. 1888.

 

Im Jahre 1918 zog man, bedingt durch die Kriegswirren nicht nach Kevelaer, sondern nach Aldenhoven, und auch im 2. Weltkrieg kam die Prozession bis auf kleinere Privatgruppen von

4-5 Personen in manchen Jahren zum Erliegen. Dem gegenüber stehen Zahlen von 140-170 Pilgern in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und von über 200 Pilgern aus den Anfangsjahren nach dem 2. Weltkrieg. Zahlen die deutlich machen: „Not lehrt beten“.

 

Nach mündlicher Überlieferung war das Amt des Präfekten der Bruderschaft im Jahre 1884 Wilhelm Deußen übertragen worden. Im Jahre 1904, als Deußen zum 50.Male mitzog, wurde die heute noch mitgetragene Fahne gekauft, die auf der einen Seite das Bild der Gottesmutter und auf der anderen Seite die Brudermeisterstäbe zeigt. Leider wurde die Widmung des Herrn Deußen bei einer Ausbesserung im Jahre 1966 zerstört.

 

Nach dem Tod von Wilhelm Deußen übernahm Franz Schmitz das Amt des Präfekten. Seine Nachfolger waren Wilhelm Hensen, Gerhard Korsten, Josef Thönnissen, Wilhelm Dohmen. Im Jahre 1975 übernahm dieses Amt Josef Esser („Ingenhütt“), der es 2002 an Gottfried Botterweck weitergab.

 

Seit 2003 hat ein Team von jungen Leuten die Leitung der Bruderschaft und damit der Dremmener Kevelaerprozession übernommen. Hubert Wirtz, der bis dahin maßgeblich an der Organisation der Wallfahrt beteiligt war, steht diesem Team, bestehend aus Gottfried Botterweck, Michael Storms und Rene Thönnissen, auch weiterhin beratend zur Seite.

Erster Brudermeister ist seit vielen Jahren Martin Lambertz („Itsches“).

 

Heute besteht die Gemeinschaft der Wallfahrt aus drei Gruppen. Neben den Fußpilgern und den Radpilgern bilden die Buspilger sowie die privat angereisten Pilger die dritte Gruppe. Alle drei Gruppen vereinigen sich vor dem Ortseingang von Kevelaer und ziehen gemeinsam in den Wallfahrtsort ein.

Bis auf die Daten aus der Handpostille des Küsters Johann Hubert Cremer, konnten wir uns nur auf mündlich überlieferte Daten beziehen.

Aus diesem Grund möchten wir die allgemeine Situation der Wallfahrer, die sicherlich auch für die Dremmener Pilger Gültigkeit hatte, vor 200 Jahren zu Beginn des 19.Jahrhunderts beleuchten.

 

Welche Möglichkeiten hatten sie und mit welchen Schwierigkeiten mussten die Pilger in der vergangenen Zeit, in der säkularisierende Franzosen, später protestantische Preußen das politische und religiöse Leben im Rheinland beeinflussten, kämpfen ?

 

 

 

Französische Behinderung und Einschränkung

 

1794 marschierten die französischen Revolutionstruppen ins Rheinland ein.

Auch Dremmen wird durch die Truppen Napoleons besetzt. Dremmen wird zur Mairie

(Bürgermeisterei), zu der außer Herb und Boverath auch Horst gehört. Die Mairie Dremmen gehört zum Kanton Heinsberg, Arrondissement Aachen, Departement de la Roer.

Erster Maire (Bürgermeister) ist Dominikus Lieck.

Seit 1802 gehört Dremmen zu dem von Frankreich neu geschaffenen Bistum Aachen und wird damit endgültig aus dem Bistum Lüttich (zugehörig seit karolingischer Zeit, urkundlich ca. 1385) herausgelöst.

Uetterath wird 1804 selbstständige Pfarrgemeinde (die dortige Kapelle unterstand seit ihrer Gründung etwa im 14.Jh. der Mutterkirche in Dremmen).

 

Die Parole der neuen Machthaber „Liberte, Egalite, Fraternite (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ) wurde von vielen zunächst als Freude aufgenommen. Doch bald merkten die Menschen, dass es mit der angeblichen Freiheit nicht weit her war. Es regte sich der Widerwille der gut katholischen Masse der Rheinländer gegen die unkirchliche Revolution, von deren Anhängern man eine schwere Beeinträchtigung der eigenen religiösen Belange befürchtete – und dies nicht zu Unrecht.

 

Zwar gestattete das Direktorium in Paris offiziell „die freie und ungehinderte Ausübung des christlichen Kultes“ in den Rheinlanden, doch was man darunter verstand, belegen die Recherchen des späteren Oberpräsidenten der Rheinprovinz aus dem Jahre 1826:

 

„Die französische Gesetzgebung unterdrückte anfangs jeden außerkirchlichen Gottesdienst durch den Art. 16 des Gesetzes vom 7=ten Vendem. JB (29. September 1795), welcher durch Beschluss des Regierungs-Kommißaire Rudeler vom 8-ten Praireal BJ (27.Mai 1798) für die vier Rheindepartements executorisch erklärt wurde und also lautet: „Religiöse Handlungen jedweden Kultes sind außerhalb der für ihre Ausübung bestimmten Gebäude untersagt (…)“.

Es unterblieben daher die Wallfahrten mit Kreuz und Fahne, mit lautem Gebet und Gesang.“

 

Dass dies beim sinnhaft katholischen Rheinländer nicht lange anhielt, belegt ebenfalls der Bericht des Oberpräsidenten, indem er fortfährt:

„(…) aber nach und nach bildeten sich dennoch wieder Gruppen von Bittfahrern, die für sich die Stille – und später, als ihnen kein Hindernis in den Weg trat, auch mit Gebet und Gesang- nach den Wallfahrtsorten pilgerten.“

 

Die Behörden blieben allerdings nicht tatenlos. Am 20.Mai 1809 erließ der Präfekt des Rhein- und Moseldepartements eine allgemeine Verfügung gegen alles Umherziehen von Menschen in Gesellschaft, womit die öffentlichen Wallfahrten gemeint waren. Die zuständigen Behörden und Polizeistellen wurden angewiesen, derartige Züge, sofern nicht jeder Teilnehmer einen Pass bei sich trug, aufzulösen und die Widerspenstigen zu verhaften und den Gerichten zur Bestrafung abzuliefern.

Die Präfekten waren sich allerdings nicht sicher, dass diese Verfügung auch eingehalten wurde, denn schon im Frühjahr 1811 veranstalteten sie einen Rundfrage hinsichtlich von Wallfahrten, die noch stattfanden. Als Grund dieser Rundfrage wurde die “(…) Abstellung von Missständen genannt, die sich bei den wilden Wallfahrten, besonders nach Kevelaer, (…) herausgebildet hatten.“

 

Das Ergebnis dieser Rundfrage veranlasste den Präfekten des Roer-Departements am 25.Juni 1811 zu einem neuerlichen Erlass. Dieser hat auszugsweise folgenden Wortlaut:

„Art. 1. Es ist allen Personen untersagt, sich zu versammeln und zu einer Prozession zu formieren, um sich auf Wallfahrten zu begeben.

 

Art. 2. Es ist in gleicher Weise verboten, sich ohne Pässe auf Wallfahrten zu begeben unter Strafe, als Vagabunden verhaftet und der Strafkammer vorgeführt zu werden.

 

Art. 3. Die Unterpräfekten, die Bürgermeister und die Beigeordneten sind gehalten, ihren ganzen Einfluss geltend zu machen, von solchen Zügen abzuraten, die allzu oft Personen, die notwendig sind für die Arbeiten in der Landwirtschaft, im Gewerbe und für die Existenz ihrer Familien, zu Müßiggang und Unmoral führen.

 

Art. 8. Der Diözesanbischof ist gehalten, an die Pfarrer und Vikare Hirtensschreiben und Ermahnungen zu richten, die ihm geeignet erscheinen, am Erfolg dieser Maßnahmen mitzuwirken, die im Interesse der Religion und der guten Sitten erlassen sind.

                                               gez. Lacourette “

 

Dieser Erlass führte dazu, dass zwar noch Pilgerfahrten nach Kevelaer stattfanden, jedoch in einer weitaus geringeren Zahl als zuvor. Verstärkend wirkte sich aus, dass viele Pfarrgeistliche die Regierung intensiv unterstützten.

 

 

 

Hindernisse- Wallfahrten in der frühen Preußenzeit

 

„Es unterliegt keinem Zweifel“, so meinte der spätere preußische Oberpräsident, „dass, wenn von Seiten der deutschen Behörden in demselben Geiste fortgefahren worden wäre, diese Pilgerzüge allmählich gänzlich außer Brauch gekommen wären.“

 

Die Preußen, seit 1815 im Besitz des Rheinlandes, hatten für den Katholizismus und seinen Kultus kein Verständnis, zumal die rheinische Frömmigkeit immer ihre eigenen Noten besaß und am Prozessions- und Wallfahrtsgepränge besondere Freude hatte.

Zwar hatte König Friederich Wilhelm in einem Aufruf an die Einwohner des Rheinlandes vom Wiener Kongress aus gesagt: „Eure Religion, das Heiligste, was dem Menschen angehört, werde ich ehren und schützen.“ Doch die protestantischen Preußen konnten von ihrer Glaubenseinstellung her Pilgerfahrten nur als Wallfahrtsunfug ansehen, den man bekämpfen musste.

 

Am 26.Juli 1816 erließ konsequenterweise das Königlich-Preußische Ministerium folgende Verordnung in Bezug auf Wallfahrten:

 

  1. Privat-Wallfahrten einzelner Personen und Familien sind wie andere Lust- und Geschäftsreisen anzusehen und nicht zu erschweren.
  2. Große Wallfahrts-Züge und Prozessionen, die singend und betend mit Kreuz und Fahnen einher ziehen, dürfen nicht außer Landes geführt werden.
  3. Innerhalb des Landes müssen sie von einem vom Pfarrer ernannten Anführer begeleitet werden, der mit einem Passes versehen sein, ein genaues Verzeichnis aller zu seinem Zuge gehörende Mitglieder bei sich führen und für das gute Betragen derselben besonders verantwortlich sein soll.“

 

Diese Bestimmungen erschwerten Wallfahrten, war doch die Beschaffung des geforderten Passes recht mühsam. Die Verwaltung wurde oft Beamten aus den alten preußischen Provinzen übertragen, die kaum Erfahrung mit der Mentalität der hier lebenden Bevölkerung und Behandlung katholischer Angelegenheiten besaßen. Darüber hinaus bestand für die Anführer der Pilgergruppen noch das fast unlösbare Problem, eine genaue Auflistung aller Pilger zu erstellen. Manch ein Gläubiger entschloss sich erst am letzten Tag vor der Wallfahrt zur Teilnahme oder wollte sich unterwegs anschließen.

 

Insgesamt war das Katholische den neuen Herren, hier insbesondere dem Oberpräsidenten Friedrich zu Solms-Laubach, suspekt und unerträglich, der deshalb alles Erdenkliche zur Ausmerzung von Wallfahrten versuchte. In seinem Amtsblatt vom 1.August 1816 verordnete er (in Auszügen):

 

§ 1. Wallfahrten, bei denen übernachtet wird, können nur von Pfarrgemeinden unter Begleitung ihres Pfarrers (…) unternommen werden.

 

§ 3. Jeder, der einem solchen Zuge sich anschließen will, meldet sich deshalb beim Pfarrer seines Kirchenspiels und wird nach wohl erwogenen Gründen, ob seine häuslichen Verhältnisse und die Unbescholtenheit seines Rufes die Aufnahme gestatten, von demselben in ein darüber zu haltendes Verzeichnis nach untenstehendem Schema A eingetragen (…).

 

§ 4. Acht Tage vor dem Aufbrechen werden die Listen geschlossen, jede von dem betreffenden Pfarrer unterzeichnet, und dem zur Führung bestimmten Geistlichen übergeben, der sie in ein Verzeichnis zusammenträgt, und dieses unter Beilegung der Originallisten dem betreffenden landräthlichen Kommisarius wenigstens vier Tage vor dem Aufbruch einreicht.

 

§ 9. So oft er mit dem Zug in einen neuen Kreis eintritt, meldet er sich bei der ersten Ortsbehörde, welche er antrifft, und lässt seinen Pass von derselben visieren, welche in Ihrer Unterschrift bemerkt, ob die Zahl der eingetroffenen Wallfahrer mit der im Passe angegebenen übereingestimmt haben, oder nicht.

 

§ 10. An den Orten, wo ein Wallfahrtszug übernachtet, wird die Ortsbehörde vorzüglich wachsam sein, und den Anführer auf das Thätigste unterstützen, dass jede Veranlassung zu Unordnungen vermieden werde. Eben dies muss an dem Andachtsorte selbst geschehen.

 

Schema A

 

Aus der Pfarrgemeinde N:N Kreis N:N schließen sich mit Genehmigung des unterzeichneten Pfarrers an den von N.N. unter Anführung des Pfarrers (Vicarius) N:N: ausgehenden Wallfahrtszug nach N:N folgende Personen an:

 

 

Nr.

Name und

Vorname

Stand (ledig o.

verheiratet)

Gewerbe

Lebens-

wandel

Bemerkungen über die Entbehrlichkeit im Hauswesen während der Zeit der Abwesenheit

 

Die Vorschriften, auch die verschärften von 1819, wurden von den meisten Prozessionen nicht befolgt. Aus einem Bericht des Bürgermeisters von Kevelaer an den Landrat in Geldern geht hervor, dass im Jahre 1818 von 174 Prozessionen 90 keinen Pass und keine Listen mitgeführt hatten. 1819 waren von 152 Prozessionen 98 ohne gültige Papiere. In einem Begleitschreiben zu seiner Aufstellung bemerkte Kevelaers Bürgermeister am 20. Januar 1820:

 

„ Aus die Bemerkungscolonne dieses Verzeichniß belieben EW. Hochwohlgeboren zu ersehen, wie sehr viele Wallfahrtszüge hier kommen, ohne mit den vorschriftsmäßige Pass und namentliches Verzeichnis versehen zu sein (…). Von denen nicht mit Pässe versehenen Prozessionen haben sich nur sehr wenige bei mir gemeldet (...).

Wären die Pilger einmal dahin gebracht, dass sie sich auf dem Gemeinde-Bureau bei Ihrer Ankunft melden kämen, so würde ich einen ganz richtigen Etat davon vorlegen können, was ich jetzt, da diese Pilger noch immer nach meiner Stube geholt werden müssen, und wenn ich während jener Zeit auch sechs Polizei Agenten zu meiner Disposition hätte, nicht fertig bringen kann (…). Hierbei muss ich aber bemerken, dass hier bei den Wallfahrten keine Unordnungen vorgegangen sind.“

 

Es gelang der preußischen Regierung trotz allen Bemühens nicht, das Wallfahrtswesen zum Erliegen zu bringen. Einige Teilnehmerzahlen aus dem Archiv in Kevelaer belegen dies:

 

          1819 kamen in 152 Prozessionen 39.807 Pilger

          1822 kamen in 179 Prozessionen 35.625 Pilger

          1825 kamen in 156 Prozessionen 50.939 Pilger.

 

Diese ungebrochenen hohen Teilnehmerzahlen dokumentieren trotz oder gerade wegen der staatlichen Widerstände eine religiöse Erneuerung zu Beginn des

19. Jahrhunderts. Schnabel schreibt dazu:

 

„Wenn die Erneuerung des religiösen Lebens in Deutschland möglich wurde, so war dies zunächst in erster Linie dem Erbgute der Vergangenheit zu verdanken, das immer noch unverbraucht im Landvolk, in der Pfarrgeistlichkeit und in den Klöstern lebte.“

 

 

 

Der Erzbischof als Gegner – das kirchliche Wallfahrtsverbot von 1826

 

 

1821 wird durch päpstliche Bulle die Auflösung des in französischer Zeit gegründeten Bistums Aachen angeordnet. Mit Durchführung dieser Anordnung kommt die Pfarre Dremmen 1825 zur Erzdiözese Köln.

 

Die staatlichen Stellen standen allerdings in ihren Bemühungen um eine Eindämmung des Wallfahrtswesens nicht allein. Auch Geistliche, die die Gedanken der Aufklärung verinnerlicht hatten, wandten sich gegen die Wallfahrten. Solche Theologen suchten die Wallfahrten, die im Barock ihren Aufschwung genommen hatten, nicht nur einzuschränken, um Missbräuche zu bekämpfen: die Häufung von Wallfahrten und ihren Pomp, die Arbeitsscheu, die man bei den Teilnehmern zu entdecken glaubte, die Gefahren der Herberge und den unwürdigen Aufzug ungeordneter Massen an den heileigen Orten. Man wandte sich auch nicht nur gegen die theologisch bedenklichen Begriffe von „wundertätigen Bildern“ und gegen die übertriebenen Formulierungen von den „Werten der körperlichen Abmattungen“, wo wozu beispielsweise das Schleppen von Wallfahrtskreuzen, der Verzicht auf Zehrpfennige, das Barfußgehen gehörten. Man wollte, und das war das zentrale Anliegen, das Auslaufen der Pfarrangehörigen in fremde Kirchen, zum nachbarlichen Gnadenbild einschränken, um der Pfarrkirche die alte Stellung im Mittelpunkt der Seelsorge und Kultusgemeinschaft wieder zurückzugeben.

 

Entscheidender Augenblick im kirchlichen Kampf gegen das Wallfahrtswesen war, als sich der Kölner Erzbischof Ferdinand August Spiegel, ebenfalls von den Ideen der Aufklärung beeinflusst, 1826 in einem Hirtenbrief ganz grundsätzlich gegen diese Form des Pilgertums aussprach. Zunächst nannte er die Pilgerzüge zwar „ehrwürdig und an sich lobenswert“, doch kam er sogleich auf die Missstände zu sprechen, die

 

„(…) nicht nur die Vernachlässigung der Berufs- und Standespflichten nach sich ziehen, sondern auch die nächste Veranlassung oder gar der Deckmantel werden zu Unthaten, welche unter Christen nicht einmal genannt werden sollten (…). Die vieljährige Erfahrung lehrt nun, leider, dass bei Wallfahrten nach so entlegenen Orten, dass an einem Tag von der Sonne Aufgang bis zu ihrem Untergang, die Hin- und Rückzüge nicht möglich sind, nebst der Versäumniß der häuslichen Pflichten die rohesten Ausschweifungen vorfallen, und dadurch die schrecklichen Folgen des verderblichen Ägernisses herbeigeführt werden.“

 

So verbot der Erzbischof schließlich die Wallfahrten zu Orten, die außerhalb des Erzbistums lagen, bzw. nicht an einem Tag hin und zurück erreichbar waren. Die erweiterte Begründung lautete:

 

„Gott und seine Heiligen sind an keinen Ort gebunden (…) und es verräth einen schwachen Glauben an Gottes Allgegenwart und den Zustand der Seligen, wenn wir eines Zeichens bedürfen (…) Gott hört das Gebet der Frommen auch in der verschlossenen Kammer (…)“

 

War durch dieses erzbischöfliche Dekret somit Kevelaer für die Menschen aus unserer Diözese als Ziel der Wallfahrt nicht mehr möglich? Zunächst schien es so, denn 1826 meldete der Bürgermeister von Kevelaer dem Landrat in Geldern für das laufende Jahr, mit Ausnahme einer Pilgergruppe aus Aldekerk, nur holländische Prozessionen. War dies das Ende der Kevelaer Wallfahrt?

 

 

 

Fortbestand der Wallfahrten – die Aufhebung des Verbotes im Jahr 1837

 

Es sollte anders kommen. Die katholische Bevölkerung ließ sich selbst vom Erzbischof in der Art der Ausübung ihres Glaubens nicht abhalten, und so zogen bereits ein Jahr später wieder Prozessionen nach Kevelaer. Schließlich führte der Widerstand der rheinischen Katholiken, die seit Jahrhunderten diese Form gläubigen Tuns und Hoffens praktiziert hatten, dazu, dass alle Bemühungen, sowohl des Erzbischofs als auch der staatlichen Stellen, erfolglos blieben, das Wallfahren zu unterbinden. Schließlich hob der neue Erzbischof Clemens August Droste-Vischering 1837 das Verbot auf.

 

Obwohl Wallfahrten wieder gestattet waren - auch die weltlichen Behörden ließen von ihren massiven Behinderungen ab – betrachtete die kirchliche Behörde in der Folgezeit die Pilgerzüge immer noch kritisch. Als am 24.Juli 1844 das Bischöfliche Generalvikariat zu Trier offiziell über die Wallfahrt zum hl. Rock benachrichtigte und für Prozessionen aus anderen Diözesen den 1., 2., 15. und 16. September benannte, wurde in der Sitzung vom 30.Juli 1844 entschieden:

 

„Eine vorläufige, öffentliche Bekanntmachung durch ein Rundschreiben scheint nicht rathsam zu sein, In den einzelnen Fällen aber, in welchen die Erlaubnis nach Trier zu proceßionieren nachgesucht wird, könnte jedes Mal einer oder zwei von den bestimmten Tagen den Bittstellern namhaft gemacht werden.“

 

Doch langsam setzte sich eine weniger kritische Haltung zu Pilgerfahrten durch.

So war es wieder erlaubt, auch ohne Geistlichen nach Kevelaer und zu anderen Wallfahrtsorten zu pilgern.

 

1842 wurde das 200-jährige Jubiläum der Marienverehrung in Kevelaer mit großem Glanz gefeiert. Im Laufe des Jahres kamen mehr als 200.000 Pilger zur Gnadenkapelle.

 

Zu Beginn des Kulturkampfes (1871 – 1887) hatte man Sorge, dass sich die Auseinandersetzung des protestantischen Reichskanzlers Otto von Bismarck mit dem Katholizismus und der katholische Zentrumspartei auch auf die Pilgerfahrten auswirken könnte. Dazu findet man in der Chronik der Kevelaer Wallfahrtsleitung folgende Notiz aus dem Jahre 1875:

 

„Längst hatte man befürchtet, das vom Land- oder Reichstag ein neues Prozessionsverbot als förmliches Gesetz votiert werden würde, was sich nun aber noch zu verschieben scheint; dagegen wurden alte Regierungsverfügungen hervorgesucht und mit neuen Zusätzen versehen, laut welchen nur althergebrachte, d.h. solche Prozessionen, die schon vor dem Jahre 1850 bestanden, ungehindert ziehen durften, falls sie eine diesbezügliche Legitimation vom Bürgermeister des Ausgangsortes auf Verlangen der Polizei vorzeigen können.“

 

Das befürchtete Prozessionsverbot wurde jedoch nicht verhängt, aber es wurden umfangreiche Erhebungen über die Prozessionen verlangt, wie aus einem Schreiben des Landrates von Geldern an den Bürgermeister von Kevelaer hervorgeht:

 

„Nach einer Verfügung Königl. Regierung bedarf es bezüglich der einzelnen Prozessionen noch der genauen Angaben des zurückgelegten Weges, Ausgangs- und Endpunktes, Zeit, Dauer, Begleitung durch Geistliche oder nicht (…). Sodann wollen Sie ausführlich berichten, welche Maßregeln zum Schutze der Sittlichkeit für die dort vielfach übernachtenden Prozessionen getroffen sind.“

 

Der Bürgermeister nahm zum letzten Punkt wie folgt Stellung:

 

„ (…) erlaube ich mir zu bemerken, dass im hiesigen Orte Maßregeln zum Schutze der Sittlichkeit für die übernachtenden Pilger anzuordnen nicht für notwendig halte. Meine 53-jährige engere Berührung mit dem Pilgerwesen und ein allgemein gestatteter Einblick in die Art und Weise des Beherbergens geben mir die volle Gewissheit, dass die Sittlichkeit quest. Hinsicht hier nicht allein in keiner Weise gefährdet, sondern mit allen Mitteln aufrecht gehalten wird. Die Trennung nach Geschlechtern während der Nachtzeit wird in allen Logements streng ohne jede Rücksicht in der Art durchgeführt, dass z.B. Eheleute, die als solche dem Hausbesitzer nicht bekannt sind, ein völlig getrenntes Unterbringen sich gefallen lassen müssen. Ein Zusammenschlafen der Geschlechter auf dem Heu oder in Scheunen hat hier nie stattgefunden.“

 

Was das Verbot für Wallfahrten, die erstmals nach 1805 zogen, betrifft, so hatten die Gläubigen schnell eine Möglichkeit zur Umgehung desselben gefunden. Viele kamen nun als Einzelpilger, denn ihnen war das Praktizieren von religiösen Handlungen genauso gestattet wie den mit einer Prozession in Kevelaer eingezogenen Pilgern. Die ebenfalls zurückgewiesenen holländischen Pilgergruppen hatten eine andere Lösung des Problems gefunden.

Sie nannten ihre Prozession fortan: „Eine gottesfürchtige Vergnügungstour!“.

 

Von der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts bis heute fanden Wallfahrten nur dann nicht statt, oder kamen bis auf einzelne kleine Gruppen zum Erliegen, wenn wieder einmal Kriegszeit war, so insbesondere zwischen 1914 und 1918 sowie 1939-1945.

 

 

Benutzte Quellen:

  • Festschrift zur Altarweihe in der restaurierten Pfarrkirche St. Lambertus Dremmen Sept. 1982 (Berichte von Josef Esser, Leo Gillessen und Gotthard Klein )
  • Festschrift 100 Jahre Männergesangverein 1875 Dremmen (Zeittafel zur Geschichte des Ortes, der Pfarre und der Gemeinde Dremmen von Leo Gillessen)
  • Chronik der Fußwallfahrt Königshoven (Heinz Gerd Schmitz)
  • Archiv des Erzbistums Köln Gen IV, 4vol.1
  • Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Landratsamt Geldern
  • Stadtarchiv Köln, Frz. Caspel 24 D 9,6
  • Städt. Archiv Kevelaer K 1304
  • Priesterhaus Kevelaer, Pilgerbücher und -listen